Gundula Krause geht ganz nah an die Menschen ran, die sie fotografiert. Und so ist auch bei ihren Fotografien jene Gefahr groß, die der französische Philosoph Roland Barthes beschreibt, nämlich dass die Fotografie selbst unsichtbar bleibt, weil der Blick des Betrachters unmittelbar zu dem durchdringt, was dargestellt ist als blicke man durch ein Fenster. Die Fotografie ist eine Kulturtechnik, die viele Möglichkeiten in der Gestaltung bietet, die unseren Blick lenkt und unsere Wahrnehmung prägt. Gundula Krause fotografiert in Farbe, sie fotografiert Gesichter, die fast das gesamte Bildfeld einnehmen – ein wenig Hals ist noch zusehen, ein Kragen. Das Licht fällt kühl und gleichmäßig auf sie. Diese Gesichter sind ganz scharf aufgenommen, jedes Härchen, jede Pore, jede Falte treten hervor und scheinen so nah, dass der Betrachter sich erst durch die Landschaft der Haut vorarbeiten muss bis er das Gesicht als Ganzes und in seinem Ausdruck wahrnehmen kann. In Zeiten der digitalen Bildbearbeitung, in denen selbst private Aufnahmen verfremdet und scheinbar ausgebessert werden, ist das schon fast ein Affront. So scharf das Gesicht gezeichnet ist, so unscharf erscheint die Umgebung. Schon Kragen- und Schulteransatz beginnen zu verschwimmen. Der Hintergrund ist kaum mehr als ein Muster, in dem man Gemäuer und Lamellentüren erahnt. Immer befindet sich der Mensch vor einer Wand, was ihn noch näher vor uns, den Betrachter, treten lässt. Wir können mit unseren Blicken nicht ausweichen. Und wir können den Blicken der Porträtierten nicht entgehen, die immer auf uns gerichtet sind. Wir werden mit ihnen konfrontiert. Und dadurch, dass diese Gesichter so groß ins Bild gesetzt sind, ist es unmöglich, auf sie herabzuschauen. Betrachter und Abgebildeter sind auf Augenhöhe.
Es sind Gesichter von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung, einige mit Down-Syndrom, alle Seniorinnen und Senioren. Das ist es, was der Betrachter wohl als erstes bemerkt, wenn er auf die Bilder zugeht. Als nächstes wird er sehen, dass es Gesichter von Menschen sind, die einen Namen tragen: Rosel Fischer, Michael Klein, Dagmar Hoeber, Gabriele Sommer oder Bärbel Pfitzner – ihn verraten die Bildtitel. Ganz anders als August Sander, der sich während der Weimarer Republik vornahm, ein fotografisches Abbild der Gesellschaft herzustellen. Das Werk heißt „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Er fotografierte „Bauern“, „Künstler“ oder „Intellektuelle“ und auch sogenannte „letzte Menschen“, darunter Frauen und Männer mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen. Sander verzichtete aber auf die Namen, darauf, die Gesichter herauszuarbeiten, Individuen vorzustellen. Das unterscheidet Gundula Krauses Ansatz von dem August Sanders. Was bei Krause zählt, ist der Akt des Fotografierens und zwar nachdem sie Zeit mit den Porträtierten verbracht hat. Es zählt der Akt des Ausstellens und Publizierens der Bilder, weil es ein Hinschauen ist, ein respektvolles Gegenübertreten und ein eindringliches Vorstellen von alternden Menschen mit Behinderungen, wie sie wegen des „Euthanasie“-Programms der Nationalsozialisten in Deutschland kaum präsent waren.
Es sprachen Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Manuela Hönig-Burger, Lebenshilfe | Fotos: © Phil Dera
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NEUE FOTOGRAFIE SZ-Magazin.de, Interview mit Frederike Krüger.
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